Psychotherapie ohne Psychologie?

Eine Kritik der S3 Versorgungsleitlinie „Unipolare Depression“

(veröffentlicht in Report Psychologie, Heft 6/2010)

 

 

Autor:

Diplom-Psychologe

Rainer Mannheim-Rouzeaud

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76137 Karlsruhe

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Die Berichterstattung im reportpsychologie (Heft 2/2010) über die S3 Versorgungs­leitlinie „Unipolare Depression“ [1] ist allzu unkritisch. Dass diese Leitlinie von Ärzte-Zeitungen und den ärztlich dominierten Psychotherapie-Verbänden gelobt werden würde, ist ja nicht verwunderlich, aber das Wegschauen der Psychologen ist schon bemerkenswert. Wer die Versorgungsleitlinie liest, wird unschwer die medizinische Sichtweise verkennen können, die hier bestimmend ist.

 

Nirgendwo mehr ist davon die Rede oder auch nur zu erahnen, dass die depressiven Symptome einen Sinn haben könnten, dass sie etwas zum Ausdruck bringen könnten, was die Psyche aufgrund ihrer zugrundeliegenden Struktur mit ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten in solchen seltsamen – sogar vom Zeitgeist abhängigen – Symptomen zum Ausdruck bringt. (Oder verhaltenstherapeutisch formuliert: Dass die Symptome das Ergebnis einer längeren biographischen Lerngeschichte sind, die auf ihre Entstehungsbedingungen zu beschreiben und zu ergründen ist.)

 

Dass die Kategorisierung „Seelischer Störungen“ unter dem Krankheitsbegriff immer nur ein Notbehelf war, ist in Vergessenheit geraten, der Krankheitsbegriff ist längst wörtlich genommen worden, von „krankheitswertig“ spricht ja bereits niemand mehr. Depression erscheint konsequent medizinisch wie eine von einer schicksalhaften Macht (Virus) verursachte Krankheit, bei der man weder nach Zusammenhängen und Entwicklungen (Sinnbildung) noch nach ihrer Lerngeschichte fragen muss, sondern nur nach ihrem „Schweregrad“.

 

ICD-10-Diagnose unzureichend

 

Unter medizinischem Gesichtspunkt sind die ICD-10 Diagnosen der Depression nach ihrem Schweregrad sinnvoll, unter psychologischem Gesichtspunkt sind diese Diagnosen aber – milde formuliert – unzureichend, sie sind allenfalls erste Hinweise, die in einer eigenen psychologischen Diagnostik weiter untersucht werden müssen. Insofern ist der Ratschlag der Leitlinie, bei leichten Depressionen zunächst einmal abzuwarten, schlicht haarsträubend.

 

Dieser Ratschlag heißt übertragen in die Medizin,  bei einem Patienten mit Husten zunächst mal abzuwarten und auf das Abhören der Lunge zu verzichten. Kein Arzt würde so handeln, aber in der Psychotherapie kann solch ein Vorgehen empfohlen werden. Ursache dafür ist psychologisches Nichtwissen. Dieser Verlust von Psychologie in der Psychotherapie ist schon erstaunlich. Die Diagnose einer psychischen Störung ist aber mehr als die ICD-10 Diagnose. Die psychologische Diagnose  – wie sie z. B. im Bericht an den Gutachter[2] unter dem Stichwort „Psychodynamik“ gefordert wird – kann auf die eigene Untersuchung nicht verzichten (psychologische Exploration, psychologische Tests usw.). Mit der Approbation scheinen psychologische Psychotherapeuten vergessen zu haben, was sie an psychologischer Diagnostik im Studium gelernt haben, ein Vergessen, das freilich durch die eklatante Unterbezahlung der probatorischen Phase, durchaus ins System passt.

 

In Vergessenheit geraten ist auch, dass die „unipolare Depression“ einmal eine psychiatrische Kategorisierung von schwersten Depressionen war (in der ICD-9 unter Kapitel 296: Affektive Psychosen), im Unterschied zu den „neurotischen Depressionen“ (Kapitel 300: Neurosen). Durch das Aufgeben jeglicher Versuche, in der Diagnose Hintergründe miteinfließen zu lassen, und der ausschließlich symptombezogenen Betrachtungsweise ist mit der ICD-10 eine Weichenstellung eingeleitet worden, auf Psychologie vollkommen zu verzichten, so spärlich sie zuvor in das medizinische Diagnosesystem – unter dem Einfluss der Psychoanalyse – auch eingeflossen war. Diesen Rückschritt der Psychotherapie hinter die Erkenntnisse Sigmund FREUDs, der versucht hatte, die Psychotherapie aus der Medizin herauszuführen, lässt sich im Verlauf der Diskussionen über das Psychotherapeutengesetz anschaulich verfolgen.[3] Das Traurige daran ist, dass diese Entwicklung von den Psychologen in ihrer Mehrheit sogar befürwortet und vorangetrieben worden ist.

 

Blinde Ratschläge

 

Aber wer noch genug von Psychologie versteht, der weiß: Hinter einer nach ICD-10 „leichten depressiven Episode“ können sich  schwerwiegende seelische Konflikte verbergen, die dringend bearbeitet werden müssen. Umgekehrt sind die schwersten Depressionen psychotherapeutisch bisweilen nicht mehr zugänglich. Die in den Leitlinien empfohlene Kombination von medikamentöser Behandlung plus Psychotherapie ist der Ratschlag eines Blinden, nach dem Prinzip: „doppelt hält besser“. Auch hier kann erst die psychologische Untersuchung Klarheit darüber verschaffen, ob eine Psychotherapie fruchtbar sein kann oder reine Verschwendung ist.

 

Die Empfehlung des Abwartens entspringt einem in der Medizin nicht verstehbarem Umstand, weil er psychologische Grundkenntnisse voraussetzt. Es hat mit dem seelentypischen Auf und Ab der Symptome zu tun. Dieses Auf und Ab kann – wie bekannt – sogar körperliche Schmerzen beeinflussen. Wenn sogar körperliche Schmerzen (freilich nur kurzfristig) verschwinden können, wie leicht sind dann erst körperfernere seelische Zustände verschiebbar. Erst in der psychologischen Diagnostik kann hinter dieses vordergründige Auf und Ab geschaut werden, der medizinischen Diagnostik ist diese Durchsicht nicht zugänglich.[4] Allerdings machen Ärzte natürlich diese Erfahrung, dass die Symptome wie von selbst (scheinbar) verschwinden und aus dieser Oberflächensicht resultiert dann die Empfehlung des Abwartens.

Symptome sind beweglich

 

Statt die Flüchtigkeit der Symptome psychologisch zu berücksichtigen, was eine entsprechende theoretische Fundierung verlangt, verstellt die Leitlinie den Blick dafür, schlimmer noch, sie versucht – durchaus mit Gewalt – die Symptome zu zementieren.[5] Denn die Art und Weise, wie die Symptome gemäß der Versorgungsleitlinie erhoben werden, ist keineswegs empirisch fundiert von den Phänomenen her abgeleitet, sondern die Fragen heben heraus, was sie finden wollen. Der symptombezogenen Frageweise der Leitlinie ist ein doppelter Vorwurf zu machen:

1. Sie nimmt die Patientenklage wörtlich, statt sie als eine erste Version einer zum Ausdruck drängenden Problemlage zu betrachten. Sie sitzt der erzählten Geschichte des Patienten auf. (Ein Fehler, der einem guten Arzt, der bei dem bleibt, was er gelernt hat, nämlich den Körper zu untersuchen, niemals unterlaufen würde.)

2. Sie ignoriert die psychologische Erkenntnis darüber, dass die vorgegebenen Fragen die Zusammenhänge der seelischen Störung zerreißen. Lässt man hingegen die Patienten freier berichten und zwängt sie nicht in ein enges Fragebogenkonzept, kommt es zu weiterführenden Geschichten und zu ganz anderen Zusammenhängen. Wie künstlich die so erhobenen Symptome sind, kann man gut an ihrer Abhängigkeit vom Zeitgeist erkennen. Während früher, wie die Vorsorgungsleitlinie richtig feststellt, „depressive Patienten selten spontan über typische Kernsymptome berichten“, ist heute aber genau das Gegenteil zu beobachten: Denn viele Patienten berichten heutzutage ihre depressiven Symptome, als läsen sie aus dem medizinischen Lehrbuch vor.

 

Meine inhaltliche Kritik an der Versorgungsleitlinie findet ihre implizite Bestätigung in formalen Auffälligkeiten, die wie „zufällig“ erscheinen, aber hier ganz im Sinne der Freudschen Überdetermination betrachtet werden können:

Unter Punkt 3.2.1 der Versorgungsleitlinie sind die „Akteure in der Versorgung“ genannt und zwar in folgender Reihenfolge:

          ● Hausärzte,

          ● Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie bzw. Nervenheilkunde,

          ● Fachärzte für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie,

          ● Ärzte mit Zusatzbezeichnung Psychotherapie und Psychoanalyse,

          ● Psychologische Psychotherapeuten,

          ● weitere Leistungserbringer für psychosoziale Therapien (Ergotherapeuten,...

          ● Fachkrankenhäuser....

          ● Rehabilitationseinrichtungen.....

           

Ich behaupte, würde man die Psychologischen Psychotherapeuten aus dieser Liste streichen, niemand (außer uns selbst) würde es so recht bemerken. Was das bei knapper werdenden finanziellen Mitteln im Gesundheitssystem bedeutet, mag sich jeder Psychologe selbst ausrechnen.[6]

 

 

 

 

 

 

 



[1]  http://www.versorgungsleitlinien.de/themen/depression/index_html

 

[2] Um einem möglichen Missverständnis zuvorzukommen: Der Gutachterbericht insgesamt ist reformbedürftig. Aber er enthält immerhin Elemente einer tieferen psychologischen Diagnostik.

 

[3] Mannheim-Rouzeaud, Rainer: Sigmund Freud als Psychologe; Report Psychologie; Heft 1/1993;
http://r-mannheim.de/freud.htm

 

[4] Was der Medizin nicht vorzuwerfen ist, denn ihr Gegenstand ist ein anderer. Umgekehrt kann einer Psychotherapie nicht vorgeworfen werden, sie habe körperliche Erkrankungen übersehen. Denn Psychotherapie kann nur in Seelisches schauen – vorausgesetzt, sie kann es überhaupt.

 

[5]  Unter 2.2 der Leitlinie wird empfohlen, dass die Symptome „aktiv exploriert werden“, eine für ein psychologisches Interview aufgrund ihrer Nähe zur Suggestion höchstproblematische Vorgehensweise.

 

[6]  Inzwischen wurde meine Befürchtung bereits von der Wirklichkeit eingeholt, wie in „VPP aktuell“, Heft 08. über den Tarif „TK-Privat Praxis“ der Technikerkasse, der die Psychologischen Psychotherapeuten ausschließt, nachzulesen ist.

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