(veröffentlicht in: report Psychologie, Heft 6/2013 S. 264,265)

 

Wie viel Psychologie braucht ein Psychotherapeut?

 (Plädoyer gegen ein Direktstudium der Psychotherapie)

von Rainer Mannheim-Rouzeaud

 

Im Für und Wider um das Direktstudium Psychotherapie scheint mir eine wichtige Argumentationslinie bisher nicht ausreichend diskutiert zu werden, nämlich: Was bedeutet das Direktstudium für den Zusammenhang zwischen Psychotherapie und Psychologie? Viele Psychologische Psychotherapeuten scheinen ihr Herkommen aus der Psychologie zu vergessen. Nur wenige stoßen sich daran, dass die Einordnung der Psychotherapie in die Heilkunde eine – zurückhaltend formuliert – unzulässige Beschneidung darstellt: Eine schwere Ehe- oder Partnerkrise beispielsweise ist ohne Zweifel psychotherapiebedürftig und es ist widersinnig, daraus eine „Depression“ konstruieren zu müssen. Jeder Arzt würde laut lachen, würde man ihm per Therapie-Richtlinie die Untersuchung und Behandlung eines Hustens untersagen, nur weil es sich dabei noch nicht um eine Lungenentzündung handelt.

 

Während den meisten Psychologen im konkreten Behandlungsgeschehen das Fragwürdige dieser Einordnung bewusst ist, geht ihnen dieses Bewusstsein außerhalb des Behandlungsraumes offensichtlich verloren. Jenseits der Praxis wird hemmungslos mit Parallelen zur medizinischen Welt operiert, Versorgungsdenken kopiert und Vergleiche mit der Ärzten und ihrer Aura gesucht. Das Seelische und vor allem die Probleme seiner Erfassung und Darstellung – also das Urthema der Psychologie – gerät dabei aus dem Blick. Durch ein Direktstudium der Psychotherapie würde diese Blindheit nicht nur verstärkt, sondern sogar strukturell installiert werden. Denn die entscheidende Frage ist: Wie viel Psychologie wird in einem Psychotherapie-Direktstudium noch Platz haben? Mit Sicherheit kann man sagen: Es kann nicht die „gesamte“ Psychologie sein. Doch gerade die Auseinandersetzung mit dem gesamten Feld der Psychologie ist nach meiner Auffassung eine unabdingbare Voraussetzung für den Beruf des Psychotherapeuten.

 

Dass die Psychologie ohnehin nicht in ihrer Gesamtheit studiert werden kann, ist dabei nicht das Entscheidende, denn es geht um die prinzipielle Möglichkeit, oder ob diese von vorneherein ausgeschlossen ist und die Beschneidung selbst und das Interesse derer, die diese Beschneidung vornehmen, nicht mehr in den Blick kommen kann. Für das Studium der Psychologie wesentlich ist nämlich die Erfahrung der Verschiedenartigkeit bis hin zur Unvereinbarkeit der Ansätze, mit denen Seelisches erfasst werden kann, bzw. was das überhaupt ist, das Seelische, oder wissenschaftlich ausgedrückt, was der Gegenstand der Psychologie ist. Was an den Universitäten gelehrt wird ist ja keineswegs einheitlicher Natur, sonder durchaus widersprüchlich. Das ist durchaus ein Charakteristikum wissenschaftlicher Institutionen und in anderen Wissenschaften genauso der Fall. Die Verschiedenheit der Auffassungsweisen – verkörpert in mehreren Lehrstühlen und unterschiedlichen Professorengestalten –  kennen zu lernen und eine Wahl treffen zu müssen, für welche Richtung man sich in der konkreten Arbeit (z. B. der Examensarbeit) entscheidet, ist ein wesentlicher und prägender Bestandteil eines Universitätsstudiums.

 

Die Bedeutung dieser Entscheidung ist in ihrer Tragweite nicht hoch genug einzuschätzen, auch wenn das zunächst nur halbbewusst geschieht und erst im weiteren Lebensverlauf deutlich wird. Denn diese Wahl, wie, mit welchen Methoden kann Seelisches überhaupt erfasst und verstanden werden, kann keine kurzfristige oder leicht austauschbare sein. Dafür ist der Gegenstand des Studiums zu komplex. Und mehr noch: Es ist nicht nur die Komplexität des Gegenstandes, sondern es ist eine Entscheidung, die richtungweisende Bedeutung für das weitere Leben hat. Zwar gibt es viele Psychologen, die sich die Tragweite dieser Entscheidungen nicht bewusst machen wollen, sie meinen dem Gegenstand ihres Faches neutral gegenüber verbleiben zu können, aber das ist spätestens mit der Entscheidung für ein bestimmtes Psychotherapieverfahren nicht mehr möglich. Die notwendige Selbsterfahrung verbietet bereits methodisch diese Neutralität und die häufig anzutreffende innere Distanzierung ist auch nichts anderes als eine Entscheidung, nämlich sich nicht ganz einzulassen. Mit der Wahl eines Psychotherapieverfahrens verhält es sich also in Wahrheit wie mit der „Wahl“ in einer Partnerschaft. Dieses Bild mag überraschen, aber es trifft mehr zu, als sich das so mancher Psychotherapeut zugestehen will. Nur das Wort „Wahl“  ist in diesem Zusammenhang nicht wirklich zutreffend, denn es ist eine Risikoentscheidung, die jedoch auf verschiedenem Niveau getroffen werden kann: unbeteiligt, oberflächlich, fundiert, engagiert usw. Vor allem aber ist sie lebensbedeutsam. Sie kann zwar geändert werden, aber diese Neuorientierung ist alles andere als leicht, es ist ein langwieriger und schwerer Prozess.

 

Für all das hier Beschriebene würde das Direktstudium der Psychotherapie blind machen. Es würde den Zusammenhang zwischen Psychologiestudium und Psychotherapieverfahren zerreißen. Und anstelle dieses Zusammenhangs würden eine Täuschung etabliert werden, ohne dass die jungen Studenten diese überhaupt erkennen könnten:

 

Die Täuschung besteht darin anzunehmen, dass ein direkter Zugang zur Psychotherapie möglich sei. Aber es gibt keine Psychotherapie ohne zugrunde liegende Psychologie. Das ist auch bei den von Ärzten ausgeübten Psychotherapieformen nicht anders. Fehlen hier die notwendigen psychologischen Grundlagen (was oft der Fall ist) liegen hier immer – oft unbewusste – private Einfachpsychologien zugrunde. Ein Beispiel für eine solche private Einfach-Psychologie ist die so genannte „Kontaktpsychologie“, die der Begründer der Lindauer Psychotherapiewochen Ernst Speer entworfen hat, eine Psychologie, die weit hinter der (universitären) Kommunikationspsychologie z. B. der Watzlawicks zurückbleibt. Es zeichnete Sigmund Freud aus, dass er sich immer als psychologischer Forscher verstanden hat und daher die Psychoanalyse nicht im Medizinsystem eingeordnet wissen wollte. Es ist gleichzeitig die Tragik der Psychoanalyse, dass Freud keinen Zugang zur damaligen akademischen Psychologie – der Ganzheits- und Gestaltpsychologie der 20er Jahre –  gesucht und gefunden hatte. Gegen die Ausbildung (unqualifizierter) Privatpsychologien schützt alleine der Zwang zu einem Universitätsstudium, so unzulänglich das auch selbst sein mag. (Oder man müsste sich wie S. Freud auf ein individuelles Forscherleben in Sachen Psychologie begeben.)

 

Die Absurdität eines Psychotherapie-Direktstudiums wird besonders deutlich, wenn man dieses Modell einmal auf die Medizin überträgt: Niemand käme auf die Idee, die wissenschaftlichen Grundlagen des Medizinstudiums, die notwendigen Kenntnisse über das Funktionieren des Körpers vom Studium der Behandlungstechniken abzuspalten und einen Direkt-Studiengang „Medizinische Therapie“ einzuführen. Die Tatsache, dass dies nun im Bereich der Psychotherapie – erstaunlich willkommen – diskutiert wird, dass es möglich sein soll, Psychotherapie an Universitäten zu studieren, ohne Psychologie studiert zu haben, belegt, wie weit sich die Psychologischen Psychotherapeuten bereits von der Psychologie entfernt haben. Mit einem Direktstudium der Psychotherapie würden wir zustimmen, dass es möglich wäre, Psychotherapie zu betreiben, ohne auf dem Gebiet der Psychologie – also über das Funktionieren des Seelenlebens – das zu wissen, was man in einem Studium der Psychologie heutzutage erlernen kann.

 

Mein Fazit ist: Aufgrund des engen Zusammenhangs von Psychologie und Psychotherapie kann es keine qualitativ hinreichende Psychotherapieausbildung ohne abgeschlossenes Psychologiestudium geben. Wer dieses dennoch befürwortet, zerreißt den Zusammenhang zwischen Psychologie und Psychotherapie. Die Folge davon würde eine weitere Fremdbestimmung der Psychotherapie sein, die bereits durch die Einbettung ins Medizinsystem in ihrem Wesenskern gefährdet ist. Auch für die wissenschaftliche Psychologie würde dies einen Rückschritt bedeuten, denn undifferenzierte private Einfach-Psychologien würden – unbemerkt – zur Grundlage der Psychotherapie. Die Verankerung als Hochschulstudium wäre nur noch eine äußerlich formale, ohne inhaltlich wissenschaftliche Verbindung.

 

 

->zurück zur Startseite